Prolog
Am Anfang war der Gedanke: Das wäre doch genau das Richtige für mich, ein Potpourri aus Sport, Abenteuer und Erlebnis, und zugleich eine große Herausforderung. Tour Divide. Das Mountainbike-Rennen entlang der Great Divide, der kontinentalen Wasserscheide Nordamerikas. Untertitelt mit dem anmaßenden Slogan "The toughest bike race is not in France!".
Dominik Scherer, bayerisches MTB-Urgestein und Bikeguide-Kollege bei Alpenevent, hatte 2009 während eines Alpencross über seine Teilnahme darüber berichtet und mir dabei unwissentlich einen Floh ins Ohr gesetzt, der zunächst einen Stein und bald eine ganze Geröllhalde ins Rollen brachte.
Nachdem die privaten und beruflichen Randbedingungen geklärt waren, fasste ich im Oktober 2010 den Entschluss, im Juni 2012 beim Grand Départ in Banff an der Startlinie zu erscheinen. Damit begann der 20-monatige Countdown, während dem im sportlichen Bereich (und oft auch darüber hinaus) Radfahren an erster Stelle stand und vieles andere sich unterzuordnen hatte.
Banff (Canada) |
Mit einer Entfernung von 2.770 Meilen (4.500 Km) und über 55.000 Höhenmetern handelt es sich um das längste MTB-Rennen überhaupt. Insgesamt gibt es zwischen Banff in Canada und Antelope Wells in New Mexico mehr als 30 so genannte Divide-Crossings, mehr als 10 Pässe liegen über 3.000m Meereshöhe und an der höchsten Stelle, auf dem Indiana Pass, ist die Luft auf über 3.600m dünner als an jedem mit dem Bike erreichbaren Punkt der Alpen. Von Schnee und damit verbundenem meilenlangen Schiebepassagen, Durchwaten von Flüssen und wenig erfolgreichen Fahrversuchen auf versandeten Wegen ist so gut wie mit allem zu rechnen, was die Natur an Herausforderungen mit sich bringt.
Tracey Petervary im Kanadischen Flathead |
Blitzartig auftretende Gewitterregen verwandeln einen brauchbaren Schotterweg in eine unpassierbare Schlammpiste, die an Material und Mensch alles Bewegliche mit "Mud" besetzt. Hier kann das Rad bei annähernd doppeltem Gewicht nur noch tragend bewegt werden.
Von Banff (Canada) durch 5 US-Staaten nach Mexico |
Da ein Großteil der Strecke durch Gebiete führt, die auch von Tieren bewohnt werden, denen wir Europäer sonst eher nur im Zoo begegnen, ist die Kenntnis einschlägiger diesbezüglicher Verhaltensregeln Pflicht (Bärenglocke und -pfeife, Bärenspray, Wegschließen und Hochhängen von Essensvorräten). Diese theoretische Kenntnis dann gegebenenfalls in die Praxis umsetzen zu müssen, stellte für mich eine der größten mentalen Herausforderungen des Vorhabens dar. Und so war ich einerseits zwar enttäuscht, die mir des Öfteren gestellte Frage "Have you seen a bear yet?" verneinen zu müssen, konnte diesem Umstand aber dennoch einiges Positives abgewinnen.
An der Whitefish-Divide |
Mit Robin und Michael im südlichen Colorado. Robin musste leider bald aufgeben. |
Logistische Herausforderungen spielen gerade in dünner besiedelten Gebieten wie im südlichen Colorado und in New Mexico eine große Rolle: Reichen die Wasservorräte noch bis zum nächsten Ort oder muss ich zu einem näher aber abseits gelegenen Punkt ausweichen? Hat der Radladen am Zielort noch geöffnet? Nicht selten erlebt man hier unangenehme Überraschungen, gerade was die Öffnungszeiten oder gar Existenz von Lebensmittelläden oder Tankstellen betrifft. Hier auf Nummer sicher zu gehen, ist in der Regel mit zusätzlichem Gewicht und längeren Wegstrecken verbunden. Das gleiche gilt für Übernachtungen: Motel oder Campieren? Letzteres ist natürlich flexibler und effizienter, da man so lange biken kann, wie man möchte und grundsätzlich überall campieren darf, wo es nicht explizit verboten ist. Voraussetzung ist natürlich einigermaßen stabiles Wetter sowie eine rudimentäre Erfahrung mit Biwaks im Freien.
Tracking in Echtzeit |
Mittendrin
Heute am 15. Tag scheint es richtig gut zu laufen. Recht früh war ich in Breckenridge gestartet und hatte bald den Boreas-Pass hinter mich gebracht. Die Route, deren ersten Teil ich von einem Besuch mit Tina im letzten Jahr gut kannte, verläuft hier entlang einer still gelegten Eisenbahnstrecke, was eine kontinuierliche und moderate Steigung verspricht. Die Meereshöhe von über 3000m macht sich kaum bemerkbar, denn Zeit zur Höhenadaption gab es genug. Bald nach dem Pass ging es auf den Gold-Dust-Trail, eine Variante außerhalb der offiziellen ACA-Route. Trotz netter Passagen will hier jedoch kein richtiges Flow-Gefühl aufkommen, denn zu schwer macht sich das Gepäck bemerkbar; es kann aber auch an den Strapazen der vergangenen beiden Wochen liegen oder am Wissen, dass noch einiges bevorsteht. Der Trail ist bald zu Ende und die stetig fallende Passstraße lässt mich zügig in Como, Colorado, einfahren. (Vermutlich geht der Name dieses kaum 20 Einwohner zählenden Ortes auf italienische Auswanderer zurück.)
Am Boreas-Pass zwischen Breckenridge und Como |
Es gehört zum Pflichtprogramm eines TD Bikers, sich bei Britishman David im Como-Depot blicken zu lassen und die Kohlenhydrat- und H2O-Speicher zu betanken. Dies war in Gesellschaft zweier sogenannter North-Bounder (das sind diejenigen, die an der mexikanischen Grenze starten und in Nordrichtung nach Banff fahren) schnell erledigt, nicht weil es zu wenig gegeben hätte oder mir das typisch englische Frühstück nicht schmeckte – ganz im Gegenteil -, aber die Zeit drängt, auch und besonders beim Essen. Wir sind ja schließlich in einem Rennen!
Gastlichkeit im Como-Depot |
Knapp 100 Meilen und 2 Pässe liegen zwischen Breckenridge und Salida, wo ich unbedingt noch während der Öffnungszeiten von Absolute Bikes eintreffen muss, um die hoffentlich letzte Reparatur meines Tretlagers durchführen zu lassen. In Hartsel, wo ich einen Verpflegungs-Zwischenstopp einlege, scheint einerseits die Zeit still zu stehen, andererseits dauert es eine gefühlte Ewigkeit bis mein Mittagsmenü serviert ist. Mittlerweile habe ich mich an die ungläubigen Blicke des Personals gewöhnt, wenn sie mit Erstaunen wahrnehmen, dass meine Order mehrerer Menüs nicht für eine ganze Familie sondern nur für mich allein gilt. Als man dann auch keine Kreditkarten akzeptiert und meine 100-Dollar-Note nicht wechseln kann, bin ich fast am Verzweifeln. Letztlich wurde auch dieses Problem gelöst und ich eile weiter Richtung Radshop.
Hartsel, CO - mit intakter Infrastruktur für den Strafvollzug |
Noch einmal geht es knapp auf 3000m Meereshöhe, bevor mich eine 15 Meilen lange Abfahrt hinunter nach Salida spült. Da ich meinen Besuch telefonisch angekündigt hatte, wurde ich bei Absolute Bikes bereits erwartet und entsprechend begrüßt. Meine unmittelbaren Verfolger hätte ich heute ja deutlich distanziert und das trotz zweier ausgiebiger Pausen, so die Information des Inhabers, der über das Tracking-System bestens über den Stand des Rennens informiert war. Der Abstand zu meinen Mitstreitern war mir jedoch weniger wichtig als die Bestätigung, dass ich gut unterwegs war. Die anderen Teilnehmer sind bei dieser Unternehmung weniger Konkurrenten, eher Leidensgenossen mit dem gleichen primären Ziel, nämlich an der mexikanischen Grenze anzukommen und das in einer möglichst guten Zeit. Die absolute Platzierung ist zwar nicht völlig unwichtig, spielt aber eher eine untergeordnete Rolle.
Campieren im südlichen Wyoming |
Auch wenn man bei der Tour Divide grundsätzlich alleine unterwegs ist, bilden sich häufig kleine Teams und man fährt ein paar Stunden oder auch Tage zusammen, wenn es passt. Gerade in Gebieten mit hoher Bärenpräsenz oder beim nächtlichen Campieren bietet dies – zumindest subjektiv – eine höhere Sicherheit. Da mein Bike innerhalb einer halben Stunde repariert wurde, entscheide ich mich, heute noch den Marshall-Pass anzugehen, um dann in Dunkelheit nach Sargents abzufahren. Mit mehr als 150 Meilen und über 4000 Höhenmetern wäre das eine super Tagesbilanz, die meinen Tagesschnitt deutlich verbessert. Die kurze Zeit zum Austausch des Tretlagers lasse ich natürlich nicht ungenutzt verstreichen, esse "etwas" und decke mich mit Nahrungsmittel und Getränken ein. Mein Standardpaket bestehend aus 3 Snickers, 3 Twix, 2 Energieriegel, 1 große Packung Gummibärchen, 2 Sandwich und 1 Packung Trockenfleisch hat sich mittlerweile bestens bewährt und reicht bis zum nächsten Frühstück, notfalls auch länger. Hinzu kommen 4-5 Liter Getränke, vorwiegend Wasser und ein Mineralgetränk. Mir war aus Vorberichten nicht unbekannt, dass man während der Tour Unmengen an Nahrung zu sich nimmt, des Ausmaßes war ich mir aber in keinster Weise bewusst. Zuweilen fühlte ich mich wie eine Maschine, die stets von oben bestückt werden muss, um unten den entsprechenden Output zu liefern. Neben Essen, Rad fahren und Schlafen bleibt wenig Zeit für Sonstiges. Das Motto der Tour "Eat – Sleep – Ride: Tour Divide" erfährt seine völlige Berechtigung. So nahm ich. um diesbezüglich die Effizienz zu erhöhen, bei Hotelübernachtungen das Essen meist in der Badewanne ein.
Tour-Divide Standard-Paket (Snack am Abend) |
Zügig nähere ich mich dem Marshall-Pass, als es zu dämmern beginnt. Meine Stirnlampe benötige ich wegen des Mondlichts noch nicht, das Tempo ist beim Bergauffahren sehr moderat und die Routenfindung unkompliziert. Nach fast 3.000km auf der Tour hat sich mittlerweile ein Fahrgefühl entwickelt, das mich für Momente sogar die Augen schließen lässt, selbst Steine oder Unebenheiten kann ich fast blind ausgleichen. Gleich bin ich oben, sage ich zu mir, noch knapp 2 Meilen, dann werde ich die Stirnlampe anschalten und in gut einer Stunde unten in Sargents sein. Doch plötzlich kommt mir das Fahren etwas eigenartig vor, mein Bike scheint Unebenheiten durch ein Nachschwingen auszugleichen. Zunächst führe ich diese Wahrnehmung auf meine Müdigkeit zurück, bis mich ein plötzliches Knacken im Bereich der Gabel auf den Boden der Tatsachen zurückführt.
Nichts mehr zu machen ... |
Sofort erkenne ich: Rahmen gebrochen! Zunächst kann ich es nicht glauben und denke, ich bin in einem schlechten Film. Der Riss im oberen Bereich des Unterrohrs ist unverkennbar und um sicher zu gehen, taste ich ihn mit den Fingern ab. Wie soll es nun weiter gehen, wenn überhaupt? Hier, mitten in den Rocky Mountains bei Dunkelheit, 15 Meilen von Sargents und mehr als 20 Meilen von Salida entfernt. Bedeutet dies das Aus? Sollte die fast zweijährige Zeit der Vorbereitung umsonst gewesen sein? Vor Verzweiflung spreche ich laut zu mir selbst und entwickle konstruktive Alternativen, um den Gedanken an ein Ende möglichst früh zu ersticken. Es muss weiter gehen! Dennoch schwebt er wie ein Damokles-Schwert über mir. Selbst wenn ich wieder in der Zivilisation zurück bin, ist das Problem noch nicht gelöst. OK, dann gibt es eben einen neuen Rahmen, notfalls ein neues Bike. Die bisherigen Investitionen nicht nur materieller Art waren so hoch, dass es daran nicht scheitern soll.
Die einzig vernünftige Alternative ist mir bald klar: Das Bike hinunter nach Sargents schieben und dann auf der asphaltierten Fahrstraße über den Monarch-Pass auf eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Salida zu hoffen. Dann könnte ich mit einem reparierten oder neuen Gefährt die Tour in Sargents wieder fortsetzen. Aber 15 Meilen zu Fuß in Radschuhen, das sind gut 24 Kilometer, also mehr als ein Halbmarathon. Dafür brauche ich doch gut 5 Stunden allein für die Wegstrecke, von zusätzlich auftretenden Problemen wie Routenfindung ganz zu schweigen. Und irgendwann werde ich doch auch müde, ich bin jetzt seit über 15 Stunden fast ununterbrochen auf den Beinen.
Absolute Team bei Absolute Bikes in Salida |
Aber letztlich bleibt mir nichts anderes, als mich auf den Weg zu machen. Der Rahmen wird mit starkem Klebeband notdürftig fixiert, so dass ich das Bike wenigstens schieben kann und es nicht tragen muss. Die Stirnlampe mache ich erst gar nicht an und bewahre die Energie für 2 Stunden Licht für eventuelle Notfälle. Bei zahlreichen vorwiegend alpinen Unternehmungen konnte ich die Erfahrung machen, dass sich die Augen schnell selbst an sehr schwache Lichtverhältnisse gewöhnen. Und in der Tat, das schwache Licht des Fast-Halbmondes reicht aus. Bevor ich losgehe, entsichere ich das Bärenspray, man weiß ja nie. Nach jeweils einer gefühlten Stunde kontrolliere ich mit dem GPS-Gerät die Route und meinen Fortschritt. Spätestens um 4 Uhr sollte ich in Sargents ankommen. Nach drei Viertel der Strecke wird die Oberfläche des Schotterwegs besser und ich traue mich, das Bike wie einen Roller zu benutzen. Ein Bein auf dem Pedal und jederzeit zum Absprung bereit. Eine ziemlich wackelige Angelegenheit, die mich aber zügiger vorankommen lässt. Und allein das zählt im Moment. So erreiche ich gegen halb Vier Sargents, eine um diese Uhrzeit noch verlassenere Ansammlung weniger Häuser. Hinter der Tankstelle finde ich sogar einen einigermaßen windgeschützten Platz zum Campieren, richtig komfortabel angesichts der bisherigen Umstände.
Camp mit Z-Lite, Tarp und Schlafsack |
Schnell bin ich in Schlaf- und Biwaksack eingepackt und wäre fast schon eingeschlafen, als mir einfällt, Tina noch eine Entwarnungs-SMS zu schicken. Sie kann ja meinen bisherigen Verlauf im Internet verfolgen und wundert sich bestimmt sorgenvoll über meine nächtlichen Aktivitäten. Am Morgen, sprich zwei Stunden später, stehe ich trampend an der Passstraße und nochmal 2 Stunden später bei Absolute Bikes in Salida im Laden, wo mein erneuter Besuch verständlicherweise großes Erstaunen auslöst. Dies wird noch größer, als der Grund meines Auftretens offensichtlich wird. Zügig diskutieren wir mögliche Lösungsalternativen und werden uns schnell einig. Da der Rahmen nicht mehr repariert werden kann und kein Rohloff-kompatibler Rahmen verfügbar ist, muss ich mich notgedrungen und mit einem unguten Gefühl von der genialen Speedhub verabschieden und auf ein neues Bike umsatteln. Die Größe passt einigermaßen, auch lassen sich meine diversen Gepäcktaschen vernünftig platzieren, nicht optimal, aber angesichts der Umstände mehr als befriedigend.
Das "absolut" neue Bike |
Kurz nach Mittag befinde ich mich dann wieder in Sargents – ein Mitarbeiter von Absolute Bikes hat mich in seiner Mittagspause mit dem Privat-PKW dorthin chauffiert, wo ich auf meine nicht wenig überraschten gestrigen Verfolger, Michael und Robin, treffe. Sie wähnten mich schon über alle Berge. Aber so schnell kann sich das ändern. Eigentlich dachte ich, nach meinem nächtlichen Abenteuer einen Ruhetag einlegen zu müssen, aber da ich mich noch nicht müde fühlte, setzte ich zusammen mit den Beiden die Tour unvermittelt fort und schaffte noch knapp 100 Meilen und 1.500 Höhenmeter. Letztlich hatte ich bei dieser für mich persönlich sehr anstrengenden und nervenaufreibenden Aktion doch noch Glück im Unglück, der technische Defekt hätte mich an noch abgelegeneren Orten treffen können. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn sich der Rahmenbruch erst bei der Abfahrt bemerkbar gemacht hätte. Darüber habe ich mir jedoch wenig Gedanken gemacht, die Tour forderte zu schnell wieder physische und mentale Aufmerksamkeit.
Michael in New Mexico |
Wird fortgesetzt u. a. mit den Themen:
- Vorbereitung
- Logistische Herausforderungen
- Gegensätze